Es besteht Einigkeit darüber, dass E-Mail, WhatsApp, Facebook & Co bei falscher Nutzung unwirtschaftlich sein können. Doch die wenigsten Verantwortlichen verstehen, dass diese Kommunikationsmittel sogar unsere wirtschaftliche Zukunft verspielen können weil sie die Grundpfeiler unseres Wohlstands angreifen. Die provokanten Statements des E-Communication-Spezialisten Günter Weick sollen zum Nachdenken anregen.
1984 kam ich erstmals mit E-Mail in Berührung. Nicht, dass ich damals schon selbst E-Mails geschrieben hätte, vielmehr tat das die Abteilungssekretärin für uns. Einige Jahre später tippte ich meine Mails dann schon selbst und dank Microsoft Word und Lotus-123 gab es zu diesem Zeitpunkt auch schon Dateien, die ich den E-Mails als Anhang mitgeben konnte.
E-Mail beschleunigte unsere Kommunikation, änderte Strukturen und Prozesse. Die Abteilungssekretärin wanderte ins zentrale Schreibbüro, das dann irgendwann aufgelöst wurde - man brauchte es nicht mehr. Jeder tippte selbst - und war damit zufrieden.
Wir waren von Intel-CEO Andy Grove begeistert, der verkündigte, täglich 200 E-Mails persönlich zu bearbeiten. Das war die neue Welt! Die E-Mail bewirkte mehr Reorganisation in den Verwaltungen als alles andere: Sie beschleunigte Prozesse, verflachte Hierarchien und verlagerte Verantwortung nach unten Kein Wunder, dass wir alle überzeugte E-Mail-Nutzer waren.
2001 musste ich bei einem Kundenprojekt dann erstmals negative Nebenwirkungen von E-Mail erleben. Das machte aus mir Saulus (beinahe) einen Paulus. Seitdem helfe ich Unternehmen elektronische Medien richtig einzusetzen. Unsere Beratungsfirma ist gut beschäftigt. Und trotzdem bin ich unzufrieden. Denn eigentlich müsste es viele spezialisierte Beratungsfirmen wie die unsere geben. Doch die sind nicht in Sicht. Der Grund: die Nachfrage ist nicht groß genug. Immer noch sehen verhältnismäßig wenige Manager bei der elektronischen Kommunikation den Zwang zum Handeln – und diejenigen, die etwas unternehmen, tun es meistens aus eher unwichtigen Motiven heraus. Das eigentlich stärkste Motiv, das langfristige wirtschaftliche Überleben des Unternehmens zu sichern, spielt kaum eine Rolle.
Aktuell haben E-Mail-Projekte meist eine von zwei Zielsetzungen: Entweder sollen sie die Produktivität oder aber die Work-Life-Balance verbessern. Das sind sicherlich valide Ziele. McKinsey &Company beispielsweise sieht bei richtigem Umgang mit elektronischen Kommunikationsmedien ein Zeiteinsparpotential von bis zu 20 Prozent der Arbeitszeit. Doch wer sagt denn, dass die gewonnene Zeit den Unternehmen zugutekommt? Vielleicht entfällt ja nur die (unbezahlte) E-Mail-Bearbeitung in der Freizeit? Und zur Work-Life-Balance: Hochqualifizierte betrachten Arbeit als einen Teil ihres Lebens und nicht als einen Gegensatz dazu. Die deutsche Wirtschaft ist gut beraten, diese leistungsbejahende Einstellung ihrer Leistungsträger nicht zu unterminieren.
Wenn wir schon von einer Balance sprechen wollten, dann müssten wir von einer Now-Future-Balance reden. Denn genau diese ist aktuell überhaupt nicht gegeben. Um kleine Vorteile kurzfristig zu erzielen riskieren wir unsere langfristige Überlebensfähigkeit. Die Art, wie Menschen heute E-Mail, WhatsApp, Facebook & Co (beruflich und privat) nutzen, macht mir Angst um die Zukunft dieser Menschen – und um unsere eigene. Es wird auf Kosten der Zukunft kommuniziert. Mitarbeiter, die heute begeistert „always-on“ sind, müssten in 15-20 Jahren vom Unternehmen ersetzt werden, denn dann werden sie nur noch 80 Prozent leisten – wenn überhaupt. Die Verbindung zwischen extensiver elektronischer Kommunikation und medizinischen Diagnosen wie Burn out, Depression und ADS ist inzwischen wissenschaftlich ebenso klar belegt wie der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs oder Treibhausgasen und Klimaerwärmung. Man kann das Krankmachende falscher elektronischer Kommunikation natürlich ebenso leugnen wie die anderen Zusammenhänge, aber man tut besser daran, daran zu glauben. Selbst ohne jene Totalausfälle, die Depression, Burn-out und ADS bei Arbeitskräften verursachen, wird die Leistungsfähigkeit jener Menschen, die über Jahrzehnte praktisch ständig „unter Strom“ standen, in 15-20 Jahren nicht mehr ausreichen um unseren Wohlstand zu sichern. Das einzusehen benötigt keine wissenschaftlichen Studien, sondern nur gesunden Menschenverstand. Aufgrund der demographischen Entwicklung werden wir die ausgelaugten Menschen jedoch nicht ersetzen können. Es wird zu wenige davon geben - Unverbrauchte ohnehin nicht. Unser Nachwuchs fängt mit der Selbstausbeutung ja bereits im Grundschulalter an.
Die Vision von ausgelaugten Menschen, die sich in 20 Jahren tagtäglich in Bürotürme schleppen (oder sich in ihren Homeoffices den ganzen Tag nicht dazu aufraffen können, den Schlafanzug abzulegen) ängstigt mich. Dazu kommt, dass diese Zombies auch noch die falschen Dinge tun werden. In unseren Projekten erleben wir schon heute ständig Mitarbeiter, die von ihrem elektronischen Posteingang getaktet werden. Etwas, was nicht in ihrem elektronischen Briefkasten landet, existiert für sie nicht. Die Welt wird also in den empfangenen Kommunikationsinhalten erlebt. Diesen Menschen geht die Fähigkeit zur Initiative verloren. Ein Geschäftsführer war entsetzt, als er dieses Muster bei seinen Mitarbeitern erkannte. „Das ist ja furchtbar!“, sagte er. „Meine Leute brauchen ein PING, damit sie ein PONG machen! Und ich kann nur darum beten, dass es das richtige PING ist, sonst passiert auch kein PONG!“ Ganze Belegschaften mailen sich heute in einen „reaktiven Betriebsmodus“ – und wer einmal in solch einem falschen Modus „verdrahtet“ ist, kommt schlecht wieder davon weg. Ganz abgesehen davon, dass E-Mail ohnehin eher das Dringende fördert. Zum wirklich Wichtigen kommen wir vor lauter Kleinkram in unserer Mailbox nicht mehr. In unseren Coachings stellen wir immer wieder fest, dass viele nicht einmal mehr wissen, was das wirklich Wichtige in ihrem Job ist. Aber so richtig bewegen will man ja ohnehin nichts mehr, dafür lieber arbeiten wie ein Tier. Anstrengung ist wichtiger als das Ergebnis. Der Rocklegende Sir Bob Geldorf wird der Spruch nachgesagt: “E-Mail ist gefährlich. Es gibt uns die Illusion, wir hätten etwas getan.” Wie Recht er hat! Täglich gehen in Deutschland hunderttausende Angestellte nach Hause, die allen Ernstes glauben, etwas bewegt zu haben, nur weil sie sich mit 80 E-Mails herumgeschlagen haben. Und die Anzahl derer, die diesem Irrglauben anhängen, wird immer größer.
E-Mail richtet Dinge in unserer Psyche an, die für unsere Unternehmen nicht wettbewerbsfördernd sind. Dazu gehört auch der in Studien belegte Niedergang der sozialen und emotionalen Fähigkeiten bei jenen jungen Menschen die primär elektronisch kommunizieren (was heute nahezu alle sind). Sie verlieren schlichtweg das echte Interesse an ihren Mitmenschen, unterhalten sich lieber schriftlich, als sich im direkten Kontakt persönlich auseinanderzusetzen. Ein Unternehmen mit sozial verarmten Mitarbeitern, die in ihren jeweiligen Kämmerchen sitzen, wird aber nicht funktionieren. Vor allem wird es nicht die Produkte hervorbringen, die wir zum Wohlstandserhalt benötigen.
Täglich erleben wir auch, wie elektronische Kommunikation unsere Werte ändert. Das ist schon an den elektronischen Nachrichten selbst zu sehen. Fehlerhafte Rechtschreibung? Falsche Zeichensetzung? Fehlende Struktur? Unklare Aussagen? In der elektronischen Kommunikation wird das alles toleriert. Natürlich geht wegen dieser Fehler zunächst einmal nicht die Welt zu Grunde. Zumal uns unser Gehirn erlaubt, selbst Texte mit extrem vielen Tippfehlern noch zu verstehen. Doch die Fehler beeinflussen uns. Wer ständig Fehler in der schriftlichen Kommunikation akzeptiert (ja, wer diese selbst ohne schlechtes Gewissen selbst macht), der ist über kurz oder lang auch bei anderen Fehlern tolerant. Sei es bei Prozessen, Strukturen oder Produkten. Auch wenn wir es nicht gerne hören: Pingeligkeit, der absolute Qualitätsanspruch, hat Deutschland als Wirtschaftsnation groß gemacht. Wenn wir diese „deutsche Tugend“ nicht mehr hochhalten wollen/können, müssen wir künftig stattdessen etwas Gleichwertiges haben um unsere Wettbewerbsposition zu halten. Das sehe ich im Augenblick aber nicht. Deshalb halte ich die Entwicklung in Richtung Schlampigkeit für bedenklich. Das in der täglichen Kommunikation gelebte Laissez-faire wird zwingend auf unsere Produkte und Dienstleistungen abfärben. Und meiner Meinung nach nicht positiv.
Ich sehe in E-Mail, Facebook, WhatsApp und Konsorten also nicht nur lästige Ärgernisse, ich sehe in ihnen vielmehr konkrete Gefahren, die mittelfristig die Wurzeln unseres Wohlstands unterminieren. Mehr noch: Ich glaube, dass unsere Gesellschaft durch die ständige falsche Nutzung dieser Medien jene Entschlossenheit und Energie verliert, die in 20 Jahren nötig wären, um uns selbst wieder aus dem Sumpf zu ziehen (wenn wir dann endlich erkennen, dass wir in ihm stecken). Deshalb verstehe ich nicht, weshalb Wirtschaft und Staat keine wirklichen Anstrengungen unternehmen um negative Auswirkungen der elektronischen Kommunikationsmittel abzuwenden.
Von jenen Unternehmen, die das Thema angehen, glauben immer noch die meisten, es mit einer E-Mail-Policy, etwas Schulung oder einer „Hau-Ruck-Entscheidung“ getan zu haben. Manche träumen auch davon, das Problem einfach mit Technologie lösen zu können (Soziales Netzwerke statt E-Mail, etc.) – und treiben dabei nicht selten den Teufel mit dem Beelzebub aus.
Der Staat schaut ohnehin zu. Dabei müsste unser Bildungssystem massiv auf die nächste Generation einwirken. Wir müssten bei unseren Kindern das persönliche Miteinander stärken und die Fokussierung auf elektronische Medien reduzieren. Das Ziel müsste mehr im Mittelpunkt stehen und nicht der Kommunikationsprozess. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung kommen Jugendliche mit den neuen Medien nicht besser zurecht als wir Älteren. Sie haben lediglich (noch) mehr Lebensenergie auf deren Kosten sie leben können. Auch Zeit spielt für sie eine geringere Rolle, sie ist für sie praktisch ein freies Gut und in der Wahrnehmung der Jungen ohnehin unendlich lang. Glauben wir wirklich, dass unsere Kinder jenes falsche Verhalten, das sie vom Kindergarten bis zum Studium einüben, im Berufsleben einfach ändern können? Wenn ich mir die jungen Menschen in unseren Seminaren ansehe habe ich da stärkste Zweifel. Und für jene, die es wirklich schaffen werden gilt: Die Lebensenergie, die sie bis zu diesem Zeitpunkt unsinnig abgefackelt haben, ist unwiederbringlich weg.
Um es noch einmal klar zu sagen: Elektronische Medien, Information und Wissen sind Grundsteine unserer Wirtschaft. Wir können und wir dürfen sie nicht abschaffen. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir vor potentiellen Gefahren die Augen schließen. Wir müssen zu einer Nutzung kommen die förderlich für die Menschen und für die Wirtschaft ist. Und zwar sowohl kurz-, mittel- als auch langfristig. Dabei gibt es keine einfache Lösung - erst recht keine billige. Doch mit jedem Tag, den wir warten, wird die Lösung schwieriger und teurer.
Verfasser:
Günter Weick
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März 2017
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